Ein Vater schnappt sich im Supermarkt seine lachende Tochter und raunzt sie an. Gut so, sagen die einen. Und ich frage mich, wann die Grenze zur Gewalt überschritten ist.
Ich habe es vielleicht schon mal erwähnt: Ich kümmere mich gern um die Wocheneinkäufe für die Familie. Oft habe ich meinen Sohn dabei, wir fahren gemeinsam durch die breiten Gänge eines nahe gelegenen Großsupermarkts, suchen zusammen nach den Dingen auf dem Einkaufszettel und machen einen ausgiebigen Stopp in der Spielzeugabteilung, um uns inspirieren zu lassen. Dass an Samstagen viele andere Menschen dasselbe tun – in meiner Wahrnehmung besonders viele Männer, manche wie ich mit Kindern – stört mich überhaupt nicht. Aber manchmal führt es zu Situationen, in denen ich unsicher bin, wie ich mich verhalten soll.
Am Samstag vor Weihnachten beobachteten mein Sohn und ich diese Szene: Ein Mädchen lief fröhlich lachend durch den Kassenbereich. Sie wirkte ein wenig aufgekratzt, aber ich fühlte mich dadurch in keiner Form gestört, sondern lachte ein bisschen mit. Ihr Vater lief hinter ihr her, und ich dachte, die beiden spielen ein lustiges Spiel. Dann stolperte sie, und ich zuckte kurz zusammen, sah aber, dass sie weiterlachte. Ihr Vater nutzte die Chance, sie zu schnappen.
Dann erst sah ich in seinem Gesicht, dass wohl doch nur sie spielte, er dagegen recht angespannt war. Er nahm seine Tochter, setzte sie auf ein ungenutztes Kassenband und machte ihr sehr deutlich, dass er ihr Verhalten nicht so lustig fand wie sie. Der Ton war rau, sie hörte recht schnell auf zu lachen, und ich fragte mich: Wann ist eigentlich der Moment erreicht, an dem ich in die Erziehung anderer Menschen eingreifen würde, sollte oder sogar muss?
Quatsch machen im Supermarkt: Wann wird aus Spiel Ernst?
Daly and Newton / Getty Images
Die einfachste Antwort wäre: Sobald es zu körperlicher Gewalt kommt, geht man dazwischen. Aber schon da bin ich mir unsicher. Das Schnappen des Mädchens im Supermarkt, das ich für den Teil eines Spiels hielt, könnte man auch schon als gewaltsamen Akt ansehen. Ich weiß ja gar nicht, wie hart der Vater zugepackt hat. Und war das Setzen auf das Band im Nachhinein nicht schon ein bisschen rabiat? Könnte er ihr damit wehgetan haben? Und hat er sie während der sehr klaren Ansage, die er ihr gemacht hat, nicht ein wenig geschüttelt?
Für mich war in dem Moment keine Grenze überschritten. Außerdem hätte ich vermutlich gar nicht schnell genug reagieren können. Denn während ich noch verarbeitete, dass das alles kein Spaß war und mich fragte, was da eigentlich passiert und was ich tun könnte, war es auch schon wieder vorbei. Der Vater nahm seine Tochter, die nun nicht mehr lachte, sondern weinte, und ging mit ihr zurück zum Einkaufswagen.
Den richtigen Augenblick zum Eingreifen hatte ich verpasst. Und ich habe mich auch gefragt, welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn ich eingeschritten wäre. Nicht für mich, sondern für das Kind. Und vielleicht nicht unmittelbar, sondern mittelfristig. Hätte der Vater seiner Tochter vielleicht später zu Hause vorgeworfen, dass sie ihn in eine unangenehme Situation gebracht hat?
Und wie würde ich es eigentlich finden, wenn andere Menschen mich ansprächen, während ich meinem Sohn gerade sage, dass er zu weit gegangen ist und sich beruhigen soll? Nun kann ich mich nicht erinnern, schon mal so harsch reagiert zu haben wie der Mann im Supermarkt, aber ich sehe mich auch nie von außen und weiß nicht, wie Dinge, die ich tue oder sage, auf andere wirken.
An Silvester waren wir bei Freunden, die ihre Kinder immer kurz in ein anderes Zimmer baten, wenn sie das Gefühl hatten, dass es zu wild wurde. Das ist für alle Beteiligten eine elegante Lösung. Ich kam nicht in die Verlegenheit, mir über mein Verhalten Gedanken machen zu müssen, und für Kinder kann es sinnvoll sein, aus einer Situation herauszukommen, in der sie überdrehen oder überfordert sind.
Im Nachhinein frage ich mich, ob ich bei Freunden und Verwandten anders reagieren würde als bei Fremden. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, an dem sich die Frage wirklich gestellt hätte. Aber was, wenn es doch mal dazu käme? Einerseits habe ich bei Menschen, die ich gut kenne, weniger Hemmungen, andererseits aber auch mehr Vertrauen in ihre Urteilskraft.
Wo fängt dringend gebotene Zivilcourage an? Ist sie bei Kindern wichtiger oder weniger wichtig als bei Erwachsenen? Wann wird sie zu übergriffiger Einmischung? Ich habe gemerkt, dass ich auf diese Fragen keine guten Antworten habe.
Waren Sie schon einmal in einer Situation, in der Sie eingreifen mussten und andere Menschen wegen ihres unangemessenen Umgangs mit ihren Kindern angesprochen haben? Wurden Sie vielleicht sogar schon mal von anderen angesprochen und hielten es für unangemessen? Schreiben Sie mir gern an familiennewsletter@spiegel.de.
Meine Lesetipps
Als ich darüber nachdachte, wo eigentlich Gewalt gegen Kinder beginnt, habe ich mich an ein Interview erinnert, das meine Kollegin Heike Le Ker vor gut einem Jahr mit der Familienforscherin Sabine Andresen führte. Andresen sagt darin: »Bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche denken die meisten Menschen an körperliche Gewalt, an Schläge, an Vernachlässigung und an sexuellen Missbrauch. Es gibt aber auch die psychische oder emotionale Gewalt, die man nicht sieht, weil sie keine blauen Flecken hinterlässt, keine Brandspuren und keine Knochenbrüche.« Frau Andresen gibt auch Tipps, wie man sich verhalten sollte, wenn man Zeuge von psychischer Gewalt gegen Kinder wird.
Das ganze Interview lesen Sie hier (S+).
Noch älter ist dieses Interview meiner Kollegin Julia Koch mit der Pädagogin Elisabeth Ballmann (S+)
, die über psychische Gewalt in Kitas sagt: »Dass Kinder gedemütigt werden, ist keine Ausnahme.« Nun könnte man hoffen, dass sich die Situation seitdem verbessert hat. Aber wir wissen ja leider, dass sich die Betreuungslage eher verschlechtert und der Druck auf Erzieherinnen und Erzieher dadurch steigt.
Aber ich will Ihnen an dieser Stelle natürlich nicht nur schlechte Laune machen. Deswegen bin ich froh, dass
mein Kollege Markus Deggerich aufgeschrieben hat, was in diesem Jahr für Familien wichtig wird (S+). In seiner Vorschau geht es zwar auch um ernste Themen, aber Markus schafft es wie immer, den Irrsinn der Welt in seinem ganz eigenen Ton zusammenzufassen. Nur ein Beispiel: »Das Leben ist kompliziert genug. Lasst uns die einfache Sprache unserer Kinder feiern. Deine Rede sei: Ja, ja. Oder: Nein, nein. So wird das Leben vielleicht nicht leichter, aber eindeutiger. Und oft lustiger.«
Das jüngste Gericht
Viele Menschen starten fleischlos ins Jahr. Wer mag, kann das »Veganuary« nennen – oder auf Deutsch »Veganuar«, wie ein Kollege richtig anmerkte. Im umfangreichen Archiv unserer Kochkolumnistin Verena Lugert findet sich dafür dieses wunderbar passende Rezept: der Hoppin' John (S+).
Dabei handelt es sich um »ein herrliches Soulfood aus Bohnen und Grünkohl sowie der ›New Orleans Holy Trinity‹, bestehend aus Staudensellerie, Zwiebeln und Paprika, serviert auf Reis«, wie Verena schreibt. Guten Appetit!
Mein Buchtipp
Mein Sohn und ich reisen abends gerade mal wieder mit Mika und Sebastian aus dem Städtchen Glückshafen übers Nachtschwarze Meer zur Geheimnisvollen Insel. Das zugehörige Buch stammt aus dem Jahr 2012 und ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Ich kannte es trotzdem nicht, als unsere Nachbarn es uns vor ein paar Jahren empfohlen haben.
Es trägt den wunderschönen Titel »Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne oder Wie Hieronymus Bergström Severin Olsen wieder in sein Amt als rechtmäßiger Bürgermeister von Glückshafen eingesetzt wurde – zur Freude aller Einwohner der Stadt, bis auf einen«. Und damit ist dann schon eine Menge gesagt, aber eben doch noch nicht alles.
Vor allem verrät der Titel nicht, wie liebevoll der dänische Karikaturist Jakob Martin Strid seine Geschichte gestaltet hat. Auf jeder Seite finden sich große, bunte Zeichnungen, auf denen es viel zu entdecken gibt. Mein guter Vorsatz fürs neue Jahr: Ich will mir auch die anderen Strid-Bücher besorgen: »Herr Rumpelpumpel fliegt weg« und »Ein kleiner Frosch macht Ärger«.
Mein Moment
In meinem letzten Newsletter beschrieb ich den furchterregenden Moment, dass mein Sohn einfach nicht da war, als ich ihn aus der Schule abholen wollte. Ich erhielt daraufhin viele Zuschriften von Menschen, die Ähnliches erlebt haben.
Eine Leserin schrieb:
»Die Geschichte ist 25 Jahre her, aber die Emotionen von damals kann ich heute noch abrufen. Ich bin Nachtarbeiterin bei der Post. Meine jüngere Tochter hatte gerade die Schule gewechselt und musste mit ihrer älteren Schwester morgens allein zur Schule fahren. Das klappte in der Regel gut. Als ich sie dann mittags von der Schule abholen wollte, war sie nicht dort. Ich fuhr nach Hause, um dort nachzusehen. Da ich der Meinung war, dass sie keinen Haustürschlüssel hatte, erwartete ich, sie vor der Tür stehen zu sehen. Doch dort war sie nicht. Ich fuhr die Strecke ab, die sie vom Bus aus laufen musste.
Sie war nicht dort. Ich fuhr ein weiteres Mal zur Schule. Dort war sie nicht. Also fuhr ich wieder nach Hause. Niemand vor der Haustür. Ich bin die Strecke dreimal gefahren. Ohne Ergebnis. Leider ist man in einer solchen Situation auch nicht zu logischem Denken fähig. Nachdem ich in der Schule alle immer wieder gefragt hatte, sagte die Hausmeisterin, ich solle doch einmal zu Hause anrufen. Meine Tochter meldete sich. Sie hatte aus der Küchenschublade den dritten Haustürschlüssel genommen. Die Schule war eher aus, und sie ist nach Hause gefahren und reingegangen. Ich war nicht da, Handy hatten wir nicht.
So war das. Am Ende ist alles gut gewesen.«
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien alles Gute für das gerade begonnene Jahr.
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