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Dienstag, 7. Januar 2025
Oliver Das Gupta
Liebe Leserin, lieber Leser.
Der Rechtsradikale Herbert Kickl kann Kanzler werden, die politische Mitte in Österreich ist implodiert. Wer hat Schuld daran, dass jetzt die Demokratie auf dem Spiel steht?
Eine Woche ist das Jahr erst alt, Zeit genug, um die politischen Verhältnisse in Österreich auf den Kopf zu stellen. Der bekennende Orbán-Verehrer Herbert Kickl schickt sich an, Bundeskanzler zu werden – und angeblich wollte das ursprünglich kaum jemand im Lande, außer natürlich seine FPÖ und wohl einige Industrielle.
Tatsächlich kann Kickl nur nach der Macht greifen, weil zuvor die christsoziale ÖVP, die Sozialdemokraten und liberalen NEOS gezeigt haben: Wir können und wollen nicht miteinander. Selbst dann nicht, wenn ein Radikaler wie Kickl deshalb Regierungschef wird. In mehr als drei Monaten seit der Wahl war es ihnen nicht gelungen, eine gemeinsame Regierung herbeizuverhandeln.
Andreas Babler (SPÖ, li.), Karl Nehammer (ÖVP) und Beate Meinl-Reisinger (NEOS): Gescheiterte Koalitionsbildung
Lisa Leutner / REUTERS
Es ist ein Bankrott der staatstragenden Parteien. Die Österreichs politische Mitte ist zusammengebrochen. Nichts weniger ist passiert.
Die Implosion verlief wie im Zeitraffer: Die NEOS verließen die Koalitionsverhandlungen mit ÖVP und SPÖ. Den Konservativen war die Ein-Stimmen-Mehrheit mit der SPÖ zu wenig, sie sprang ab. Lieber servierte die ÖVP ihren
Frontmann Karl Nehammer ab und diente sich der FPÖ als Juniorpartnerin an. Sie ist nun plötzlich offen für Kickl als Kanzler – was einen Bruch eines zentralen Wahlversprechens darstellt.
Alternativen bieten sich den Konservativen keine, mit Sozialdemokraten und NEOS klappt es ja nicht. Die Gewichte im Bauch des Staatsschiffs haben sich entscheidend verschoben. Es ist nun ungewiss, ob Österreich eine liberale Demokratie bleibt.
Jede Partei gibt den anderen Parteien die Schuld
Vier Tage haben gereicht für eine Umwälzung, nun zeichnet sich eine Koalition ab, die die meisten Menschen in Österreich nicht wollten. Längst macht sich in Wien Katerstimmung breit. Wer hat Schuld an dem Schlamassel? Warum ist die »Austro-Ampel« gescheitert?
Schuldzuweisungen kommen aus allen Richtungen,
drei Parteien, drei Erzählungen. ÖVP und NEOS zeigen auf Andreas Babler. Der SPÖ-Vorsitzende kassierte den Liberalen zufolge bereits ausgehandelte Deals, er soll auch cholerisch aufgetreten sein. Babler sagt:
Stimmt alles nicht.
FPÖ-Chef Herbert Kickl: Es ist ungewiss, ob Österreich eine liberale Demokratie bleibt
Georges Schneider / photonews.at / IMAGO
Der ÖVP sagt man aus Kreisen der SPÖ nach, dass sie angeblich bereits in den Weihnachtsferien diskret Kontakt zu Kickls Truppe gesucht hat. Die Konservativen winken man ab: Babler sei problematisch und die NEOS hätten mehr Sitzfleisch in Verhandlungen haben müssen.
Die Sozialdemokraten wiederum nennen die NEOS »Egomanen«, man zieht Parallelen zur FDP und ihrem ausgetüftelten Bruch der deutschen Ampel-Regierung. Jeder zeigt also auf die anderen beiden, keiner will es gewesen sein.
Viel spricht dafür, dass die Verhandler falsch an die Koalitionsgespräche herangegangen sind. Ein »Weiter-So« dürfe es nicht geben, es gebe keine roten Linien, hatten die Parteichefs Nehammer, Babler und NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger anfangs verkündet.
Konstruktiv und kompromissbereit klang das. Doch statt zunächst eine gemeinsame Vorstellung und Teamgeist zu entwickeln, sich besser kennenzulernen, wurden bald Arbeitsgruppen eingesetzt. Dort soll es weniger gemenschelt, eher gefremdelt haben, schildern mehrere Beteiligte.
Am Ende dürften auch Eitelkeiten und fehlender Pragmatismus dazu beigetragen haben, dass das vom Boulevard als »Zuckerl-Koalition« titulierte Projekt explodierte. »Bitter«, sei das, sagt ein ÖVP-Mann, in der SPÖ zeigt man sich schwer enttäuscht von der »Qualität des politischen Spitzenpersonals«, auch des eigenen.
Bayerischer Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder
Manfred Segerer / IMAGO
Die Wiener Ereignisse elektrisieren auch den deutschen Politikbetrieb. In der CSU hält man die Entscheidung der österreichischen Schwesterpartei ÖVP für einen schweren Fehler, auch wenn Parteichef Markus Söder
direkte Kritik vermeidet. »Ich habe keine Lust, niemals, dass wir am Ende Steigbügelhalter werden für irgendwelche Populisten«, sagte der bayerische Ministerpräsident.
Söders Lieblingsrivale, der grüne Vizekanzler Robert Habeck, erklärte: »Österreich ist ein Beispiel, wie es nicht laufen darf.« Wenn die Parteien der Mitte nicht bündnisfähig seien und Kompromisse als Teufelszeug abtun, helfe das den Radikalen.
Social-Media-Moment der Woche:
Die politische Kakophonie der letzten Tage bietet Humoristen prächtige Vorlagen. Das Satire-Portal »Die Tagespresse« etwa meldet, dass die Sozialdemokraten weiterhin Koalitionsgespräche führen – mit sich selbst allein. Dem Obergenossen Andreas Babler werden Politiker-Phrasen in den Mund gelegt: »In Zeiten wie diesen braucht es mutige Lösungen«. Allerdings würden »schwierige, womöglich monatelange Sondierungen« der SPÖ mit der SPÖ bevorstehen, heißt es
in dem erfundenen Text.
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