Vom Klimasondergesandten zum Wahlsieger in Kanada: Mark Carney wird zum Helden der Liberalen, dabei sägt er gerade ihr Lieblingsmodell für den marktgerechten Klimaschutz ab.
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Viele Klimaschützer äußern sich erleichtert zum Ausgang der Wahl in Kanada. Der Liberale Mark Carney bleibt Regierungschef. Es sei
»sehr positiv«, Carney in der kanadischen Führung zu wissen, sagte etwa Ana Toni, die Organisationschefin des diesjährigen Weltklimagipfels im brasilianischen Belém. Carney besitze »ein tiefes Verständnis von Klimawandel und Ökonomik« und wisse, dass »der beste Weg nach vorn« über die Energiewende führe.
Der langjährige Zentralbanker Carney war vor Kurzem noch Uno-Sondergesandter für Klimaschutz und Finanzierung, er nannte
Investitionen in das Ziel, den Eintrag von CO₂ in die Atmosphäre zu stoppen, »die größte Geschäftschance unserer Zeit«. Sein konservativer Kontrahent Pierre Poilievre hingegen, Wunschkandidat von US-Präsident Donald Trump, wollte die fossile Industrie von allen Fesseln befreien, am liebsten Ölhäfen in der Arktis eröffnen.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Carney als erste Amtshandlung nach seiner Berufung zum Premierminister im März das Vorbild für die Lieblingsidee auch vieler deutscher Klimaökonomen beseitigt hat: Wer Produkte nutzt, die CO₂ freisetzen, soll danach den dadurch erzeugten Schaden in Form eines höheren Preises bezahlen. Dann würden sich die Verbraucher, wo immer möglich, für eine klimafreundlichere Alternative entscheiden oder ihren Konsum fossiler Brennstoffe senken, so die Idee.
Kanada mit seiner 2019 eingeführten, allmählich ansteigenden CO₂-Steuer galt als Musterbeispiel für diesen Weg. Auch, weil die Bürger nicht bloß draufzahlen sollten, mit zuletzt
80 kanadischen Dollar pro Tonne CO₂ (etwa 18 Cent je Liter Benzin), sie bekamen auch regelmäßig ein Klimageld ausgezahlt. Dieses Klimageld sollte die Steuer für die meisten Haushalte mehr als ausgleichen, sparsame Verbraucher und Geringverdiener profitierten besonders davon. Eine vierköpfige Familie aus der konservativen Ölprovinz Alberta darf für den Monat April noch 228 Dollar vom Staat aus dem Klimatopf kassieren, danach ist jedoch Schluss.
Konzerne sollen weiter zahlen
Damit ist auch die Erzählung hinfällig, die Kanadier bewiesen, dass eine Umstellung von fossilen Lebensweisen über finanziellen Druck politisch machbar sei. 2019 scheiterten die Konservativen noch mit dem Versuch, die damalige Parlamentswahl als Referendum gegen die neue Steuer und die Klimapolitik der Liberalen zu gewinnen. Inzwischen ist das Instrument etabliert, aber deswegen nicht automatisch vom Volk akzeptiert.
Zuletzt war die Klimaabgabe angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten eindeutig unbeliebt,
ganz gleich, was netto dabei herauskam. So könnte man Carneys Abkehr von der Abgabe als Wahlkampfmanöver sehen, um Poilievre bloß keine Angriffsfläche zu bieten und von der Klimaagenda zu retten, was zu retten ist.
Eine andere Lesart: Carney lenkt den Fokus auf andere Mittel, die mehr Erfolg für den Klimaschutz versprechen. Staatliche Investitionen in die Energiewende etwa oder gezielte Hilfen an Bürger, die auf neue Technologien wechseln wollen.
Die Kanadier heizen ihre Häuser mehrheitlich mit Erdgas, vor allem jedoch fahren sie dicke, spritschluckende Trucks, mehr noch als die südlichen Nachbarn in den USA. Wenn man einmal ein solches Fahrzeug oder eine Gasheizung besitzt, erscheinen Kosten von 80 Dollar je Tonne CO₂ schmerzhaft. Sie machen zugleich aber noch lange nicht den teuren Wechsel auf ein Elektroauto oder eine Wärmepumpe attraktiv.
Der Fortschritt in Kanada beim Klimaschutz läuft auch deshalb so zäh wie vielerorts sonst. Kanada zählt noch immer zu den global größten Emittenten von CO₂, obwohl es über reichlich günstigen, sauberen Strom verfügt.
Die Provinzregierungen dürfen nun zwar weiter CO₂ besteuern, doch selbst die progressive Pazifikprovinz British Columbia hat ihre Klimaabgabe, vor 18 Jahren als erste in Nordamerika eingeführt, nach Carneys Ankündigung umgehend beseitigt – mit dem Sicherheitshinweis, »dass die großen Verschmutzer weiterhin zahlen«. Auf Provinz- und Landesebene bleibt die Abgabe für Industrie- und Energiekonzerne bestehen. Auch wenn diese Rechnung indirekt bei den Bürgern landet, sie werden wohl nicht mehr so viel darüber diskutieren.
Man darf gespannt sein, ob die neue deutsche Bundesregierung Schlüsse aus der kanadischen Erfahrung zieht. Laut schwarz-rotem
Koalitionsvertrag hält sie »am System der CO₂-Bepreisung als zentralem Baustein in einem Instrumentenmix fest«. Dabei solle »niemand überfordert«, Verbraucher vor Preissprüngen im 2027 startenden europäischen CO₂-Markt für Gebäude und Verkehr geschützt werden. Wie genau das gehen und trotzdem sinkende Emissionen bewirken soll, ist offen. Ein Klimageld wie in Kanada ist nicht explizit vorgesehen.
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